Frau S. reicht zur Begrüßung die linke Hand, ihr rechter Arm ist taub seit dem Messerangriff. Fast 40-mal stach ihr Ehemann auf sie ein, nachdem er ihr an jenem Donnerstagabend im Juli 2021 auf offener Straße aufgelauert hatte. Ihr Körper ist nun narbenübersät, am Arm, auf dem Bauch, im Gesicht, aber die tiefsten Narben trägt Frau S. unter der Haut: Sie schläft schlecht, sie verlässt kaum das Haus, in ihr tobt permanent die Angst. „In meinem Kopf brennt immer eine rote Warnlampe“, sagt sie: „Außenwelt Gefahr! Außenwelt Gefahr! Außenwelt Gefahr!“
Trotzdem ist Frau S., 49 Jahre alt, heute zum Gespräch ins Germersheimer Stadthaus gekommen. Ihre Tochter hat sie mit dem Auto hergefahren, damit die Mutter nicht allein durch die Außenwelt gehen muss. „Ich will, dass die ganze Welt meine Geschichte hört“, sagt Frau S.
Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt. Und das sind nur die bekannten Fälle, die der Polizei angezeigt werden; das Dunkelfeld ist Schätzungen zufolge vier- bis fünfmal so groß. Eigentlich muss der Satz lauten: Alle 45 Sekunden wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt.
Für viele Frauen endet diese Gewalt tödlich. Jeden Tag versucht ein Partner oder Ex-Partner, eine Frau umzubringen. An jedem dritten Tag gelingt es einem Partner oder Ex-Partner, eine Frau zu töten. Im vergangenen Jahr waren es 133 tote Frauen.
Häufig hatten sich die Frauen vor der Tat hilfesuchend an die Behörden gewandt. Oft sprach ein Gericht ein Kontakt- und Näherungsverbot gegen den prügelnden oder drohenden Mann aus, manchmal per Eilentscheid noch am Tag der Antragstellung. Doch die Gewalttäter ignorieren diese Verbote immer häufiger. Die offizielle Kriminalstatistik notierte im Jahr 2017 für Deutschland 5.932 Fälle, in denen gegen eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz verstoßen wurde. Im Jahr 2022 waren es 6.587 Verstöße, ein Anstieg um elf Prozent binnen fünf Jahren.
Wie oft es trotz eines bestehenden Kontaktverbots zu einer schweren Gewalttat bis zum Mord kam, erfasst die Kriminalstatistik nicht. Auch eine Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS an die einzelnen Bundesländer brachte kein Ergebnis. Wir haben deshalb versucht, uns mittels einer aufwändigen Google-Recherche einen Eindruck von der Dimension zu verschaffen. Dabei haben wir nach im Jahr 2023 veröffentlichten Presseartikeln gesucht, in denen über schwerste Gewalttaten gegen Frauen im Zusammenhang mit einem bestehenden Kontaktverbot berichtet wird. Zum Zeitpunkt unserer Suche Mitte Oktober 2023 waren 109 verschiedene Texte online über Frauen in ganz Deutschland, die getötet wurden – von Männern, die sich ihnen laut Gerichtsbeschluss nie hätten nähern dürfen.
Frau S. war 14, als sie ihrem Mann versprochen wurde. Mit 15 heiratete sie, mit 16 bekam sie das erste Kind. Drei weitere Kinder folgten. Die Kinder, sie sind ihr Ein und Alles, Frau S. erzählt viel von ihnen. „Nur ihretwegen habe ich das alles 30 Jahre lang ertragen“, sagt sie. Sie meint die Angst vor ihrem Mann. Den ständigen psychischen Druck. Die Ehe, die sie nie wollte.
Als die Kinder erwachsen waren, wollte Frau S. sich trennen. 2019 erfuhr ihr Mann von ihren Scheidungsplänen, er griff sie körperlich an. Die Situation eskalierte. Frau S. zeigte ihn an, immer wieder. Die Polizei verwies ihn der Wohnung. Nachts um drei brach der Mann wieder ins Haus ein, er hatte eine Schusswaffe dabei. Der Sohn rang den Mann nieder, „Mama, geh weg! Er hat eine Waffe!“, schrie er. Der Sohn baute ein neues Sicherheitsschloss ein, der Mann versuchte mehrfach, sich bei der Sicherheitsfirma den Zugangscode zu erschleichen.
Datenanalyse: So ernst ist die Lage in Frauenhäusern
Er bedrohte Frau S., „ich werde dich erschießen, und dann erschieß ich mich“. Er stalkte sie, saß am Straßenrand im Auto und beschimpfte sie: „Hure! Schlampe!“ Er tauchte bei der Arbeit im Markt auf, er bekam Hausverbot. Er ortete ihr Auto mit einem GPS-Gerät. Er verfolgte sie und versuchte sie von der Straße zu drängen. Frau S. erwirkte Annäherungs- und Kontaktverbote nach dem Gewaltschutzgesetz, der Mann hielt sich nicht daran, das Stalking ging weiter. Ein Gericht verurteilte ihn deswegen zu neun Monaten Haft auf Bewährung, er hörte auch danach nicht auf.
In Rheinland-Pfalz gibt es ein sogenanntes Hochrisikomanagement für schwere Fälle von häuslicher Gewalt. Der Fall S. galt längst als Hochrisikofall. Bei der letzten Risikokonferenz war auch wieder Heinz Pollini dabei, Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS in Germersheim. Er erinnert sich: „Alle sagten: Da wird etwas passieren.“
Nur wenige Wochen nach der Konferenz stach der Mann Frau S. auf offener Straße nieder, nur eine Notoperation und das beherzte Eingreifen eines Passanten retteten ihr das Leben.
„Warum ist so eine Tat nicht zu verhindern?“, fragt Frau S.
Frau S. ist kein Einzelfall, ihr Überleben schon. In Berlin hatte sich die sechsfache Mutter Zohra Mohammad Gul mehrfach an die Behörden gewandt, Anzeigen wegen häuslicher Gewalt erstattet und eine Gewaltschutzanordnung für ihren Ex-Mann erwirkt. Trotzdem wurde sie am 29. April 2022 von ihm in Pankow mit 13 Messerstichen und -schnitten ermordet. Die Geschwister der Getöteten schrieben in einem offenen Brief: „Unserer Schwester wurde der Schutz verwehrt, der ihr das Leben hätte retten können und der ihren Kindern die traumatische Erfahrung des Verlusts erspart hätte.“
Ein Kontakt- und Annäherungsverbot gab es auch im Fall des Zahnarztes, der am 19. Mai 2021 in Dänischenhagen bei Kiel seine getrennt lebende Ehefrau mit 50 Schüssen aus einer Maschinenpistole niedermetzelte und zwei weitere Männer tötete – den neuen Lebensgefährten und einen gemeinsamen Bekannten, den er wohl für die Trennung verantwortlich gemacht hatte. Der Täter wurde wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt. Vor den Morden – so wurde es im Gericht vorgetragen – hatte er seiner Ex-Partnerin nachgestellt, ihr Auto mit einem GPS-Sender verfolgt und das Annäherungsverbot einfach ignoriert.
In Freiburg stellte eine Gerichtsvollzieherin im Mai 2017 einem drohenden Mann ein im Eilverfahren beschlossenes Kontakt- und Annäherungsverbot „durch Einlegen in den Briefkasten“ zu. Nur wenige Wochen später rammte der Mann auf offener Straße den Wagen seiner Ex-Partnerin Anne, erstach zunächst sie und anschließend den gemeinsamen vierjährigen Sohn Noah, der auf dem Rücksitz saß.
Die Berliner Opferrechtsanwältin Asha Hedayati schreibt in ihrem Buch „Die stille Gewalt – Wie der Staat Frauen alleinlässt“: „Demonstrierende Klimaaktivist*innen werden in Präventivhaft genommen, und es ist frustrierend zu sehen, dass der Staat sich in manchen Bereichen sehr konsequent zeigen kann. Wenn Mandant*innen nach der Trennung von ihrem Ex-Partner gestalkt und bedroht werden und sich an die Polizei wenden, hören sie fast immer, es müsse ,erst etwas passieren‘, bevor sie aktiv werden könne.“
Christina Clemm ist Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und vertritt seit fast dreißig Jahren Gewaltopfer. In ihrem aktuellen Buch „Gegen Frauenhass“ schreibt sie über Gewaltschutzanordnungen: „Es gibt Täter, die halten sich daran. Meist sind es die, die nicht besonders gefährlich sind. Die anderen verstoßen dagegen, erhalten eine Strafanzeige nach der anderen, ein Ordnungsgeld nach dem anderen. Bezahlen Ordnungsgelder, warten auf Strafverfahren und machen weiter.“ Einmal, schreibt Clemm, habe sie für eine Mandantin 85 Strafanzeigen erstattet. „Es half gar nichts."
Es wäre falsch zu sagen, niemand habe Frau S., ihre Angst und die Drohungen ihres Mannes ernst genommen. Die Polizei kam wieder und wieder. „Er ist gefährlich“, sagte schließlich ein Polizist zu ihr, „Sie müssen hier weg.“ Frau S. kam in ein Schutzprogramm. Sie musste ihr Mobiltelefon abgeben, Polizisten brachten sie an einen unbekannten Ort.
Es gibt zwei Sachen im Leben, die Frau S. wirklich wichtig sind. Die erste Sache ist ihr Job im Markt. Die zweite und noch wichtigere Sache sind ihre Kinder. Im Schutzprogramm durfte Frau S. nicht mehr arbeiten, und sie durfte ihre Kinder nicht mehr sehen. Sie konnte lediglich mit ihnen telefonieren, nicht einmal Videoschaltungen durfte sie nutzen. Jeden Tag rief sie an. „Ich musste ihre Stimmen hören“, sagt sie. „Ich hatte so Angst, dass er ihnen etwas antut, wenn er mich nicht kriegen kann.“ Jeden Tag weinte sie. „Der Preis für den Schutz der unschuldigen Frauen ist viel zu hoch“, sagt sie.
Der WEISSE RING hat 2021 den Freiburger Mordfall Anne und Noah zum Anlass genommen, einen Brandbrief an 70 hochrangige Politiker zu schreiben, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz schützen niemanden, wenn sie nicht kontrolliert werden“, hieß es in dem Schreiben. Der Verein forderte die Politik zum sofortigen Handeln auf und empfahl dringend eine elektronische Aufenthaltsüberwachung für Gewalttäter, landläufig „Fußfessel“ genannt, nach dem Vorbild Spaniens.
Der Einsatz der elektronischen Fußfessel ist in Deutschland seit 2011 im Rahmen der sogenannten Führungsaufsicht erlaubt, um Gewalt- und Sexualstraftäter nach Verbüßung ihrer Haftstrafen oder ihrer Entlassung aus dem Maßregelvollzug zu überwachen, sofern von ihnen noch eine Gefahr ausgeht. Die bis dahin übliche deutsche Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 für rechtswidrig erklärt. Zwei Jahre später bewertete auch das Bundesverfassungsgericht die Regelungen als verfassungswidrig. In Deutschland mussten Dutzende Sexual- und Gewaltstraftäter in die Freiheit entlassen werden, obwohl sie weiter als gefährlich galten. Sie wurden damals rund um die Uhr von der Polizei überwacht. Die elektronische Fußfessel sollte für Entlastung sorgen.
Seit dem Neujahrstag 2012 überwacht die Gemeinsame Überwachungsstelle der Länder (GÜL) alle Personen, die in Deutschland eine Fußfessel tragen. Ursprünglich in Bad Vilbel, Hessen, gegründet, zog die GÜL in ein Hochsicherheitsgefängnis in Weiterstadt um, als sie damit begann, auch islamistische Gefährder zu überwachen. Dieser Umzug auf die grüne Wiese in der Nähe von Darmstadt war aus Sicherheitsgründen notwendig.
Bei der Anfahrt zur GÜL steigt Besuchern der beißend-süßliche Geruch des nahen Kompostwerks in die Nase. An der Pforte müssen sie Ausweis und Autoschlüssel abgeben, Smartphones sind verboten. GÜL-Leiterin Alma Friedrichs muss auf dem Weg in ihr Büro mit einem großen Schlüssel schwere Gittertüren auf- und hinter sich wieder zuschließen. Im Innenhof der JVA erinnern aufgetürmte Mauerreste an einen Anschlag im Jahr 1993. Damals hatten RAF-Terroristen den nahezu fertigen JVA-Bau in die Luft gesprengt.
Die Büros der GÜL befinden sich im ersten Stock des Verwaltungstraktes der JVA. Wären da nicht die Gitter vor den Fenstern, könnte es jedes andere Büro in Deutschland sein. Große Pflanzen auf den Fensterbänken sorgen für eine freundliche Atmosphäre. Ein Mann und eine Frau, die aus Sicherheitsgründen ihren Namen nicht in diesem Text lesen möchten, sitzen in dick gepolsterten Gaming-Stühlen an ihren Schreibtischen. Sie haben jeweils drei Monitore vor sich.
Plötzlich herrscht Hochbetrieb, rote Flecken im Gesicht der Mitarbeiter verraten die Anspannung: Soeben hat eine Fußfessel Alarm geschlagen! Ihr Träger befindet sich an einem Ort, an dem er nicht sein dürfte. Die Mitarbeiterin versucht sofort, ihn über das Handy zu erreichen, das er mit seiner Fußfessel von der GÜL bekommen hat. Doch er geht nicht dran. Also informiert die GÜL die Polizei, gibt die Koordinaten der Fußfessel durch. Dann heißt es: warten.
Der Vorfall lässt sich auf zwei großen Bildschirmen an der Wand neben der Eingangstür beobachten: Zeitstempel des Alarms, Status des Vorfalls, die Fußfesselträger (und nur verschwindend wenige Fußfesselträgerinnen) sind anonymisiert und tragen hier Kürzel wie „BY1234“ oder „NW5432“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen nur das Nötigste über ihre „Probanden“, wie sie die Fußfesselträger nennen. Für den Fall eines Internetausfalls hängen alle notwendigen Akten und Kontaktdaten als Papier-Backup in Hängeregistern im Regal. Die Zentrale ist ganzjährig rund um die Uhr jeweils mit zwei Mitarbeitenden besetzt, zwölf Stunden dauert eine Schicht. „Hier ist sich jeder seiner großen Verantwortung bewusst“, sagt Friedrichs.
Jeder muss in der Lage sein, in wenigen Sekunden von 0 auf 100 zu sein, um bei einem Alarm adäquat reagieren zu können. Bis zu 1.000 Alarme erleben die 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GÜL jeden Monat. Rund 30 davon, schätzt Alma Friedrichs, enden mit einem Polizeieinsatz. Die meisten Alarme gehen auf das Konto schwacher Batterien.
Die elektronische Fußfessel einzusetzen, um Kontakt- und Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz zu überwachen, ist eine politische und rechtliche Frage. „Technisch ist das kein Problem, auch das spanische Modell nicht“, sagt Alma Friedrichs. „Das ließe sich zeitnah hier bei uns in der GÜL einrichten.“ Bei der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung (HZD) seien die entsprechenden Geräte bereits getestet worden.
Die Polizei meldet sich in der GÜL-Zentrale zurück: Sie hat den vermissten Fußfesselträger angetroffen. Er warte auf den Fahrdienst, der unpünktlich sei. Sein GÜL-Handy habe er in der Einrichtung vergessen, in der er lebe, deshalb habe er den Anruf nicht annehmen können.
Frau S. brach das Schutzprogramm nach wenigen Wochen ab. Sie hatte ihren Sohn drei Tage lang nicht erreichen können, sie wurde halb wahnsinnig vor Angst um ihn. Sie fragt: „Warum darf ich meine Kinder nicht mehr sehen? Warum muss ich weg, nicht der Mann? Warum wird er nicht überwacht oder eingesperrt?“
Spanien setzt seit 2009 die GPS-Technologie zur Kontrolle von Gewalttätern ein. Vor allem umfangreiche Studien der spanischen Kriminologin Lorea Arenas García bescheinigen dem Modell großen Erfolg: Es sei im Rahmen des Programms in den ersten zehn Jahren keine Frau getötet worden. Entweder weil die Schutzzone eingehalten worden sei oder weil die Polizei rechtzeitig habe eingreifen können, wenn ein Fußfesselträger die Zone betreten habe. Rund 95 Prozent der zu schützenden Personen hätten zudem angegeben, dass sie sich mit dem Gerät sicher und geschützt gefühlt hätten, beschreibt García. Ihre bislang letzte Studie ist im Jahr 2019 erschienen, dutzendfach zitiert und in Teilen frei im Internet recherchier- und lesbar.
Laut der seriösen spanischen Tageszeitung El País ist das Fußfessel-Programm bis heute zu 100 Prozent erfolgreich. „Die sogenannten Anti-Missbrauchs-Bänder, die die Polizei alarmieren, wenn sich der Täter dem Opfer nähert, wurden bereits in mehr als 12.300 Hochrisikofällen eingesetzt, und keine Frau wurde getötet, während sie es trug“, heißt es dort in einem Artikel vom 25. November 2022. Zum Vergleich schreibt der Autor, dass seit 2006 in Spanien 107 Frauen ermordet worden seien, während eine Schutzanordnung in Kraft war, diese aber nicht mit einer Fußfessel überwacht worden ist.
In Deutschland wird das Instrument der Fußfessel selten genutzt. Seit der Einführung geschah das bis zum 31. Oktober 2023 nur 425-mal, fast ausschließlich im Rahmen der Führungsaufsicht oder bei extremistischen Tätern. Seit 2017 kann die Fußfessel in ganz Deutschland nicht nur verurteilten Straftätern im Zuge der Führungsaufsicht angelegt werden, sondern auch islamistischen Tätern. Weiter darf das Bundeskriminalamt die Fußfessel bei Gefährdern einsetzen, um Terroranschläge zu verhindern.
Wenn es aber um häusliche Gewalt geht wie in Spanien, wird die (Rechts-)Lage unübersichtlich. Bislang kann in solchen Fällen eine elektronische Aufenthaltsüberwachung in sieben Bundesländern angeordnet werden, geregelt ist das rechtlich zumeist über das Polizeigesetz. In einem weiteren Bundesland, in Brandenburg, befindet sich eine solche Regelung aktuell im Gesetzgebungsprozess.
In Hamburg zum Beispiel legt Paragraf 30 des Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei fest, dass zu diesem Mittel gegriffen werden darf, wenn „dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist und die zu verpflichtende Person für die Gefahr verantwortlich ist“. Die Anordnung könne insbesondere mit einem Betretungs-, Aufenthalts-, Kontakt- oder Näherungsverbot verbunden werden.
Aber nur ein einziges Mal ordnete Hamburg seit Ende 2019 das Tragen einer Fußfessel wegen Beziehungsgewalt an. Der vorbestrafte Gewalttäter wehrte sich dagegen vor Gericht – und er bekam recht. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamburg liest sich wie ein Krimi. Das Gericht listet mehr als 20 Gewalttaten, Drohungen und Stalking-Taten des Mannes gegenüber der Frau auf, darunter Faustschläge ins Gesicht und Sätze wie „Ich bring sie um“, außerdem mehr als zehn Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz, Haftbefehle und verhängte Bewährungsstrafen. Dennoch kommt das Gericht zu dem Schluss: „Die Voraussetzungen für die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung liegen nicht vor.“
Vielleicht auch deshalb verweist Jan Hieber, Chef des Landeskriminalamtes Hamburg, im Interview mit dem WEISSEN RING auf die „extrem hohen Hürden“, die mit der elektronischen Fußfessel verbunden sind, und sagt: „In Hamburg treffen wir in der Regel andere Maßnahmen.“
Bayern, Nordrhein-Westfalen und jüngst auch Hessen haben den Einsatz der elektronischen Fußfessel in Fällen häuslicher Gewalt als „gefahrenabwehrrechtliche Maßnahme“ in ihren Landespolizeigesetzen ermöglicht. In Hessen kann seit dem Sommer 2023 nach dem Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung unter bestimmten Voraussetzungen ein polizeilicher Platzverweis mit der Fußfessel verbunden und so konsequenter überwacht werden. Das sind jedoch nur kurzfristige, präventiv-polizeiliche Schutzmaßnahmen für Opfer von Partnerschaftsgewalt. Gerichtliche Kontakt- und Annäherungsverbote nach dem bundesrechtlichen Gewaltschutzgesetz lassen sich damit nicht überwachen.
In Nordrhein-Westfalen hat es in den 47 Kreispolizeibehörden des Bundeslandes seit der Gesetzesnovelle im Jahr 2018 nicht einen einzigen Fall gegeben, in dem die Polizei die elektronische Fußfessel im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt eingesetzt hat. Dies teilt das Landeskriminalamt auf Nachfrage des WEISSEN RINGS mit.
„Bayern hat nun das schärfste Polizeigesetz in Deutschland“, titelte die „Süddeutsche Zeitung“ im Mai 2018. Tatsächlich nutzt Bayern die elektronische Aufenthaltsüberwachung, im Behördendeutsch kurz EAÜ genannt, von allen Ländern am häufigsten zum Schutz vor Gewalttätern. Seit Einführung gab es in immerhin 24 Fällen „Beschlüsse zur Durchführung einer präventiv-polizeilichen EAÜ“, teilt das Innenministerium in München auf Nachfrage mit. „Insbesondere im Hinblick auf festgelegte Verbotszonen, die der Betroffene nicht betreten darf, stellt sich die Umsetzung der Überwachung der Maßnahme problemlos dar“, heißt es weiter. Die bisherigen Erfahrungen mit der Fußfessel wertet das Ministerium „durchgängig als positiv“.
Frau S. lebt in Rheinland-Pfalz, in ihrem Fall gab es die Möglichkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht. Vielleicht wäre sie ein bisschen besser dran gewesen, wenn sie in Bayern gemeldet gewesen wäre. Sehr viel besser wäre sie wohl dran gewesen, wäre sie Spanierin.
Der hessische Justizminister Professor Roman Poseck sagt im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS, er sei offen für das spanische Modell. „Spanien macht gute Erfahrungen mit diesem Modell, und deshalb sollten wir uns damit beschäftigen, weil jede Annäherung auffällt – beispielsweise auch beim Einkaufen oder an anderen Orten“, sagt er. „Warum sollten wir nicht von Spanien lernen und uns die guten Erfahrungen nicht uns zunutze machen?“ Auf Initiative Hessens hat die Justizministerkonferenz den Bundesjustizminister Ende Mai 2023 um Prüfung gebeten, wie Schutzanordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz mit dem Einsatz der elektronischen Fußfessel bundesweit rechtlich verbunden werden können.
Im November 2023 hat das Haus von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) fertig geprüft. Ergebnis: Die Schaffung einer entsprechenden Anordnung im Gewaltschutzgesetz wäre aus Sicht des Ministeriums „nicht geeignet, um den angestrebten lückenlosen Opferschutz zu gewährleisten“. Das Ministerium verweist auf die „zeitlichen Verzögerungen“, die die familiengerichtlichen Gewaltschutzanordnungen oft mit sich bringen, und auf die Zuständigkeit der Polizei. „In einigen Polizeigesetzen der Länder ist die Befugnis zur Anordnung einer elektronischen Fußfessel zur Flankierung von Schutzmaßnahmen auch bereits verankert, so in § 34c des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen“, schreibt das Ministerium und gibt das Thema damit zurück an die Länder.
Wir haben das Buschmann-Ministerium auch konkret nach dem Vorbild Spanien gefragt. Antwort: „Das von Ihnen angesprochene spanische Modell ist dem Bundesministerium der Justiz bekannt.“
Beim spanischen Modell müssen für die Überwachung beide, Mann und Frau, ein GPS-Gerät tragen: der Mann zwangsweise, die Frau freiwillig. Bei der Frau ist es eine Art Handy. Frau S. sagt: „Aber natürlich hätte ich das gern getragen!“
Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) hat sich in einem Positionspapier für den Einsatz der elektronischen Fußfessel ausgesprochen: „Als Straf- wie auch mögliche Präventionsmaßnahme gegen Täter, bei denen der Verdacht auf Gewaltbereitschaft besteht und die bereits gegen eine Gewaltschutzanordnung verstoßen haben, sollte deshalb die elektronische Fußfessel ermöglicht werden. Sie sollte die Behörden alarmieren, sobald der vom Gericht angeordnete Mindestabstand zum (potenziellen) Opfer unterschritten wird.“
Die Anwältin Asha Hedayati schreibt: „Ich bin wütend darüber, dass arme migrantische Frauen noch schlechteren Zugang zu Schutz haben, dass jeden zweiten bis dritten Tag eine Frau durch die Gewalt ihres (Ex-)Partners stirbt. Der einzige Grund, warum ich nicht regelmäßig in Gerichtsverhandlungen vor Ohnmacht und Wut anfange zu schreien, ist die gut erlernte Fähigkeit, meine Gefühle im Griff zu behalten.“
Der Mann von Frau S. sitzt im Gefängnis, verurteilt zu einer lebenslangen Haftstraße. Er ist weg, die Angst ist geblieben; das Revisionsverfahren läuft noch. „Er hat gesagt: Du wirst mich niemals los, ich werde immer da sein“, sagt Frau S.
Das Gespräch im Stadthaus ist beendet, Frau S. hat alles gesagt. Sie will nach Hause gehen, „ich schaffe das“, sagt sie. Die Außenwelt ist nur ein paar hundert Meter groß, Germersheim ist eine kleine Stadt, Frau S. hat es nicht weit nach Hause. Auch der Tatort liegt nicht weit entfernt. Eng in ihren dicken Mantel geschnürt, macht sie sich auf den Weg, eine kleine, tapfere Frau mit eingezogenem Kopf. Sie geht eng an den Mauern der Häuser entlang, ihre Schultern berühren fast den Stein.
Christoph Klemp, Karsten Krogmann und Marius Meyer
Nachtrag vom März 2024:
Zukünftig kann die Polizei in Brandenburg einem Täter untersagen, sich dem Opfer zu nähern oder Kontakt mit ihm aufzunehmen. In besonders schwerwiegenden Fällen soll es außerdem möglich sein, eine elektronische Fußfessel anzuordnen. (Quelle: rbb24.de)
Transparenzhinweis: In seinen Strafrechtrechtspolitischen Forderungen tritt der WEISSE RING seit Jahren dafür ein, die elektronische Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel) bei Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz und bei gewalttätigen Beziehungstätern einzusetzen